Neue Technologie aus Japan Literatur per Telefon - E-Mails erschließen neue Möglichkeiten für ein altes Medium

Heutzutage sind Menschen,
die sich die Zeit mit dem Versenden
von E-Mails per Handy vertreiben,
in Japan ein alltäglicher Anblick.
Diese Technologie hat nun ein neues
und unerwartetes Phänomen hervorgebracht:
Leute lesen komplette Romane per Handy.
Die wachsende Zahl von Lesern besteht
vor allem aus jungen Leuten um die zwanzig,
die als erste Generation mit E-Mails aufgewachsen
sind. Ein Roman ist zunächst durch dieses neue
Medium bekannt geworden und wurde dann als
gedrucktes Buch veröffentlicht; inzwischen hat er eine Auflage
von über einer Million erreicht. Die Tatsache, dass dieser Roman
nun verfilmt wird, zeigt, wie weit dieses Phänomen bereits fortgeschritten ist.


Ein neues Medium

Der Bestseller "Deep Love" wurde von dem
Autor selbst auf einer Website veröffentlicht,
die es Besitzern von Handys ermöglicht,
Teile des Werks herunterzuladen.
Der Roman handelt von einem siebzehnjährigen Mädchen namens Ayu,
das durch eine zufällige Begegnung die große Liebe findet.

Der Autor, der sich selbst Yoshi nennt, gestaltete die spezielle
Website im Mai 2000 mit einem Budget von gerade einmal
100.000 Yen (ca. 720 Euro). Mit Hilfe einer Werbekampagne,
die darin bestand, kleine Handzettel an ca. zweitausend
Oberschülerinnen vor dem Bahnhof Shibuya in Tokyo
(Zentrum der Jugendkultur in Tokyo) zu verteilen,
veröffentlichte Yoshi "The Story of Ayu",
das Anfangskapitel des langen Romans.
Die Information über den Roman verbreitete sich dann per
Mundpropaganda, und nach drei Jahren verzeichnete
die Website insgesamt zwanzig Millionen Zugriffe.


Handys können E-Mails von bis zu 1.600 Schriftzeichen
Länge empfangen. Während dies in den meisten
Fällen für den persönlichen Gebrauch mehr als ausreicht,
bedeutet diese Beschränkung für den Autor eines Romans

eine einzigartige Herausforderung. Yoshi gelang es nicht nur,
diese Herausforderung zu meistern, er schaffte es sogar,
diese zu seinem Vorteil zu wenden, indem er einen knappen
und schnellatmigen Stil entwickelte. Der Roman ist in einem
schnörkellosen Stil verfasst, der hauptsächlich aus
Unterhaltungen der auftretenden Personen besteht und schwierige

Ausdrücke vermeidet. Dadurch wurde der Roman sogar von Leuten
gelesen, die normalerweise keine Romane lesen.


Vom Handy auf die Leinwand

Yoshi nutzte das einzigartige Wesen der Handys und des Internet,
um seine Geschichte interaktiv zu gestalten. Leser schickten ihm E-Mails
mit ihren Kommentaren, und er baute einige ihrer Ideen in seine Geschichte ein,
so dass immer wieder neue Elemente in die Handlung eingebunden wurden.
Dies machte den Roman zu einem wahren Gemeinschaftswerk von Yoshi und seinen Lesern.

Yoshi ist nun dabei, auf der Grundlage seines Romans einen Film zu machen,
bei dem er selbst Regie führt. Die Filmarbeiten begannen Ende 2003;
Yoshi stützt sich dabei nicht auf einen etablierten Verleih,
sondern wendet sich direkt an die Kinos. Er hofft,
dass er die Kinobetreiber überzeugen kann,

über seine Website eine Million Unterstützer-E-Mails von Lesern zu sammeln.
Da die Handy-Nutzer, die seine Fangemeinde darstellen,
so erfolgreich bei der Verbreitung der Informationen
über seinen Roman waren, hofft Yoshi,
dass ihre vereinte Macht auch dazu beiträgt, den Film erfolgreich zu vertreiben.


Große Verlage folgen

Die Zahl der Handys in Japan beläuft sich gegenwärtig auf
78 Millionen. Das heißt, zwei Drittel aller Japaner haben bereits ein Handy.
Das Potential von „Handy-Romanen“ interessiert
daher nun auch die großen Verlage, die damit begonnen haben,
eigene Websites zu erstellen, die Angebote für Handy-Nutzer beinhalten.
Shincho Keitai Bunko („Shinchos Handy-Reihe”) des Verlags Shinchosha,
Bunko Yomihodai (“Soviel-du-lesen-kannst-Reihe“)
von Kadokawa Shoten Publishing und Space Town Books der Sharp Corp.

sind einige Beispiele. Die Nutzer können von diesen Seiten
literarische Werke herunterladen. Typische Angebote sind z.B.
ein unbegrenzter Zugang mit einer Flat-Rate von 100-300 Yen
(ca. 0,72 - 2,16 Euro) pro Monat oder Gebühren von ca.
400 Yen (ca. 2,88 Euro) pro Buch. Die Leser müssen zusätzlich
noch eine Gebühr für das Herunterladen an ihren Handy-Provider entrichten,
die zwischen 100 und 700 Yen (ca. 0,72 - 5,04 Euro) pro Buch beträgt.

Die Leser dieser Werke nutzen das neue Medium aus einer
Vielzahl von Gründen, meistens aus Bequemlichkeit sowie
wegen der Möglichkeiten, die ein Handy bietet: so muss
man nicht extra in einen Buchladen gehen, man kann
überall lesen, ohne das Buch mitnehmen zu müssen,
und man kann sogar im Dunkeln lesen.

Einige der Websites bieten bekannte Werke der Weltliteratur,
deren Copyright bereits ausgelaufen ist, zum kostenlosen
Herunterladen auf das Handy an. Die großen Verlage investieren
in diesen Bereich immer mehr Mittel. Auch wenn der
Markt für Literatur für Handy-Nutzer noch unter
100 Millionen Yen (ca. 720.000 Euro) liegt, glauben einige Experten,
dass er in drei Jahren schon einen Umfang von
10 Milliarden Yen (ca. 72 Millionen Euro) erreichen wird.
Seit einigen Jahren schon wird beklagt,
dass junge Leute immer weniger lesen;
vielleicht bietet dieses neue Medium eine Möglichkeit, diesen Trend umzukehren.

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